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"Rolf" - Karl Meier (1897-1974)


Herkunft
Karl Meier, der Kopf des "Kreises" praktisch von den Anfängen in den 1930er-Jahren bis zu dessen Untergang Ende 1967, nannte sich "Rolf", weil er am 16. März 1897 in St. Gallen nicht als Karl Meier, sondern als Rudolf Carl Rheiner zur Welt gekommen war, und zwar als aussereheliches Kind der Glätterin Elisabeth Rheiner (*1875). Schon sehr früh muss ihn die Mutter zu Johann Thomas und Wilhelmina Meier-Götsch in Hohentannen TG, später in Kradolf TG, in Pflege gegeben haben. Spätestens ab 1907 galt Elisabeth Rheiner als verschollen; so wurde Karl 1912 von seinen Pflegeeltern adoptiert. Nach dem Besuch der Primarschule in Schönenberg TG und der Sekundarschule in Bischofszell TG, absolvierte Meier bei der Seidenweberei Schönenberg ab 1912 eine kaufmännische Lehre.

Bühnenschauspieler
Gleichzeitig organisierte er für den Stenografenverein Schönenberg-Kradolf, dessen Ehrenmitglied er bald wurde, die ersten Theaterabende. Kaum war die Lehre beendet, erwirkte Meier 1917 seine Versetzung ins Stammhaus der Firma in Zürich. Dort nahm er nebenher Schauspielunterricht. 1920 stand er bei einer Wanderbühne zum ersten Mal auf jenen Brettern, die die Welt bedeuten. Auf Lehrjahre am Stadttheater Solothurn (1920/21) und am Städtebundtheater Winterthur-Schaffhausen (1921-24), wo Meier in Operetten und Rührspielen auftrat, folgten 1924-32 ausgedehnte Wanderjahre in Deutschland, wo er zunehmend tragendere Rollen spielte, Regie führte oder das Bühnenbild entwarf: 1924/25 finden wir ihn in Bielefeld, 1925-27 in Münster/Westfalen. 1928/29 scheint er einem nicht weiter bekannten Cabaret "Der fliegende Koffer" angehört zu haben, bevor er 1929/30 am Stadttheater Glogau (heute Polen) und 1930-32 am Stadttheater Zwickau engagiert war.

Geistige Landesverteidigung
1932 kehrte Meier in die Schweiz zurück. Dem Engagement am Städtebundtheater Biel-Solothurn folgte ein solches am Stadttheater Schaffhausen (1933-35). Die Berufung zum dortigen Theaterdirektor lehnte er 1935 ab, weil er sich 1934 beim nachmals legendären, alle "-ismen" bekämpfenden "Cabaret Cornichon" verpflichtet hatte, dem er bis 1947 die Treue halten sollte. Dort trug er mit seiner soliden schauspielerischen Leistung zu jenem hohen Niveau bei, für das das Cabaret schnell einmal bekannt war, ohne selber doch zu einem Star zu werden. Erst nach dem Krieg, als die Grössen des Ensembles (Elsie Attenhofer, Heinrich Gretler, Zarli Carigiet, Voli Geiler u. a.) der Reihe nach abtraten, wurde Meier " wie die Neue Zürcher Zeitung schrieb " zu einer tragenden Säule des Cabarets. In Erinnerung blieb vor allem sein Auftritt als Kaftanjude.

Diversifizierung
1948 wechselte Meier für eine Saison zu Werner Fincks "Cabaret Nebelhorn", um dann aber sogleich den Schritt zum freien Schauspieler zu wagen. In der Folge - und bis zur Erkrankung 1970 - wirkte er als Hörspieler bei Radio Zürich, übernahm mittlere und kleinere Rollen bei fast allen Theatern Zürichs (Stadttheater, Corsotheater, Bernhardtheater, Schauspielhaus, Zürcher Märchenbühne) oder tingelte mit Schaggi Streulis Team durch die Schweizer Lande; auch ergab sich ab und zu Gelegenheit, in Spielfilmen (z. B. Hinter den sieben Gleisen) oder Fernsehspielen (z. B. Bomber für Japan) mitzuwirken.

Regisseur
Meier wirkte von allem Anfang an nicht nur als Schauspieler, sondern zeichnete immer wieder auch für das Bühnenbild verantwortlich oder führte gar Regie; er war, wie es im Bühnenjargon heisst, "rundum verwendbar". Verhältnismässig bedeutend war er als Spielleiter von Laientheatern; sein diesbezüglicher Einsatz und sein entsprechendes Talent waren immens. Sein subtiler Umgang mit Laienschauspielern hat mancher Dorfschaft zu unvergesslichen Theaterabenden auf hohem Niveau verholfen; geradezu legendär sind bis auf den heutigen Tag seine Inszenierungen mit dem Stenografenverein Schönenberg-Kradolf.

Homosexualität
Dass Meier, der - nach dem gewichtigen Urteil von Ettore Cella - sein Handwerk im Grunde besser beherrschte als mancher Star des "Cabarets Cornichon", kein "grosser" Schauspieler wurde, hängt ausser mit der ihm vielleicht etwas fehlenden natürlichen Ausstrahlung zweifellos mit seinem bewussten Entscheid zusammen, sich für die homosexuelle Minderheit der Schweiz (und darüberhinaus) einzusetzen. Meier war sich seiner Homosexualität spätestens während seiner Deutschlandjahre bewusst geworden, wobei er zunächst aus religiösen Gründen darunter litt. Zwischen 1929 und 1931 schrieb er dann für Adolf Brands "Eigenen" zwei, drei Artikel - mehr nicht. Deshalb betonte Meier später, ihn als engen Mitarbeiter oder sogar als Fortsetzer Brands zu bezeichnen, wie das da und dort gemacht worden war, sei falsch.

Kampf gegen Verleumdungen
Tatsächlich begann sein Engagement für die Rechte der Homosexuellen erst Ende April/Anfang Mai 1934, als er als Rudolf Rheiner im "Schweizerischen Freundschafts-Banner" einen flammenden "Appell an alle!", d. h. alle Lesben und Schwulen, ergehen liess, den Kampf gegen Verleumdungen des Zürcher Skandalblatts "Scheinwerfer" aufzunehmen und zu unterstützen. Von da an war Meier " immer unter Pseudonym " praktisch in jeder Ausgabe des "Freundschafts-Banners" mit eigenen Beiträgen vertreten, zumal er bald in die Redaktion eintrat und dort schnell einmal die Hauptverantwortung übernahm (derweil die Lesbierin Anna Vock, die den Schweizerischen Freundschafts-Verband präsidierte, Herausgeberin blieb).

Menschenrecht
Von 1937 bis 1941 hiess das Publikationsorgan des Schweizerischen Freundschafts-Verbands "Menschenrecht. Blätter zur Aufklärung gegen Aechtung und Vorurteil". Nachdem das neue Schweizerische Strafgesetzbuch, das die gleichgeschlechtliche Liebe unter Erwachsenen legalisierte, in der Volksabstimmung 1938 durchkam und mitten im Krieg, per 1942, in Kraft trat, wurde der kämpferische Ton des Blatts hinfällig. In der Folge trieb Meier, der jetzt fast durchwegs als "Rolf" firmierte, den Wandel, hin zur homophilen Kulturzeitschrift, entschlossen voran. 1942 übernahm er die Herausgeberschaft, auf 1943 benannte er die Zeitschrift - sie erschien jetzt zweisprachig und richtete sich nur noch an männliche Homosexuelle - in "Der Kreis/Le Cercle" um.

Der Kreis/Le Cercle/The Circle
Den deutschsprachigen Teil redigierte Meier (als "Rolf") selber, der französischsprachige Teil wurde von Eugen Laubacher (unter dem Pseudonym "Charles Welti") betreut. Ab August 1954 gab es in "Der Kreis/Le Cercle/The Circle" einen von Rudolf Jung (als "Rudolf Burkhardt") redigierten englischsprachigen Teil. Die einzelnen Hefte umfassten anfangs zwanzig, später bis zu sechzig Seiten, den grauen Umschlag aus Halbkarton zierten lediglich das Kreis-Signet, die griechische Ampel mit der sich zum Kreis schliessenden Flamme, sowie der Name der Zeitschrift. Spätestens ab Mitte der 1950er-Jahre wurde die Zeitschrift, die nur noch im Abonnent erhältlich war, um den ganzen Erdball verschickt; gleichwohl erreichte die Auflage nie mehr als 2000 Exemplare.

Der Weg in die Anonymität
Nach "Rolf" ging es für die Homosexuellen nach der rechtlichen Besserstellung von 1938/42 darum, nun auch die gesellschaftliche Akzeptanz zu erringen, eine Aufgabe, die, wie er realistisch einschätzte, längere Zeit in Anspruch nehmen würde. Bedingung dafür war seiner Meinung nach, dass die homosexuelle Minderheit die von der heterosexuellen Mehrheit gesetzten Grenzen nicht überschritt, sich "wohl verhielt". Entschlossen setzte er denn eine Strategie der Abschottung und inneren Stärkung in die Tat um. Der Schweizerische Freundschafts-Verband mit Mitspracherecht der Mitglieder wandelte sich zum lockeren "Lesezirkel", zur blossen "Abonnentenvereinigung", an dessen Spitze praktisch unangefochten "Rolf" stand. Die Inhalte der Zeitschrift bzw. das dort vermittelte Bild des idealen Schwulen (der u. a. langjährige eheähnliche Partnerschaften anstrebte und Promiskuität verabscheute) wurde unter der Führung von "Rolf" fast ausschliesslich von ihm, von "Charles Welti" und von "Rudolf Burkhardt".

Clubleben
Wer den "Kreis" abonniert hatte, wusste allein "Rolf". Obgleich es keinen eigentlichen Verein mehr gab, entfaltete sich in Zürich ein reiches Clubleben mit eindrücklichen Kleinkunstdarbietungen, fröhlichen Theater- und Tanzveranstaltungen sowie ausgelassenen Maskenbällen, aber auch besinnlichen Weihnachtsfeiern. Die Clubmitglieder wurden angehalten, nicht unter ihrem bürgerlichen Namen, sondern unter einem Pseudonym teilzunehmen. Wer wer war, wusste, jedenfalls dem Anspruch nach, allein "Rolf". Die Leihbibliothek mit homoerotischer Literatur wurde von den Clubmitgliedern ebenso frequentiert wie das Buchantiquariat; auf grosses Interesse stiess überdies der Bilderdienst. Im Lauf der Jahre edierte Meier vier Bände "Der Mann in der Photographie" sowie einen Band "Der Mann in der Zeichnung".

Netzwerk
"Rolf" förderte und unterstütze die Gründung lokaler Abonnentenvereinigungen des "Kreis". So entstanden mit seiner Hilfe entsprechende Clubs in Basel und Bern, später auch in Deutschland (z. B. die "Kameradschaft die runde" in Reutlingen), den Niederlanden und Dänemark. So spann sich in den 1950er- und 1960er-Jahren sukzessive ein zunächst europaweites, in Ansätzen sogar weltweites homosexuelles Netzwerk. Zweifellos waren das "Menschrecht" und "Der Kreis" in den 1930er-, 1940er- und 1950er-Jahren die international bedeutendsten homosexuellen Zeitschriften.

"Rolf" Karl Meier
Meier war zeitlebens eine ausserordentlich hilfsbereite Natur. Fast keine Grenzen kannte seine Hilfsbereitschaft, wenn es darum ging, homosexuellen Kameraden, die in Schwierigkeiten geraten waren, zu unterstützen. Da er sowohl zu den Zürcher Polizeistellen als auch zu verschiedenen in- und ausländischen Rechtsanwälten, Theologen und Sexualforschern hervorragende Beziehungen unterhielt, war er in der Lage, manch einem Kameraden, der mit dem Gesetz (welches z. B. in Deutschland und ÷sterreich bis Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre restriktiv war) in Konflikt geraten war, zu helfen. Aber auch rein persönlicher Nöte nahm sich "Rolf" mit einem Engagement an, die beeindruckt.

Ende
Zwar publizierte der "Kreis" schon ab 1943 Aktzeichnungen und Aktfotografien, doch blieb das männliche Geschlecht konsequent unsichtbar, Frontalakte waren verpönt. Deren Publikation hätte die Zürcher Sittenpolizei, der die Hefte von der Publikation vorgelegt wurden, vermutlich auch zum Einschreiten bewegt. Da "Rolf" an seinen rigiden Herausgeberprinzipien indessen auch noch festhielt, als in den 1960er-Jahren allenthalben freizügigere Herrenmagazine erschienen, liefen ihm die Abonnenten davon. Ende 1967 musste der Kreis eingestellt werden. "Rolf" sah sich um sein Lebenswerk betrogen, und der sonst so Unverwüstliche vermochte seine bittere Enttäuschung nur schlecht zu verbergen. 1970 erlitt Karl Meier bei Proben der Zürcher Märchenbühne einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. Von seinem jahrzehntelangen Lebenspartner Alfred Brauchli als Privatpatient liebevoll gepflegt, verstarb er am 29. März 1974 im Zürcher Krankheim Käferberg.


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von André Salathé,
Staatsarchivar des Kantons Thurgau
andre.salathe@arc.tg.ch

André Salathés Recherchen zu Rolf sind unter dem Titel "Karl Meier - Rolf (1897-1974), Schauspieler, Regisseur, Herausgeber des Kreis erschienen in: ders. (Hrsg.): Thurgauer Köpfe 1, Frauenfeld 1996 (Thurgauer Beiträge zur Geschichte 132/1995), S. 203-214.

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