Herkunft
Karl Meier, der Kopf des "Kreises" praktisch von
den Anfängen in den 1930er-Jahren bis zu
dessen Untergang Ende 1967, nannte sich "Rolf",
weil er am 16. März 1897 in St. Gallen nicht
als Karl Meier, sondern als Rudolf Carl Rheiner zur
Welt gekommen war, und zwar als aussereheliches
Kind der Glätterin Elisabeth Rheiner (*1875).
Schon sehr früh muss ihn die Mutter zu Johann
Thomas und Wilhelmina Meier-Götsch in
Hohentannen TG, später in Kradolf TG, in
Pflege gegeben haben. Spätestens ab 1907 galt
Elisabeth Rheiner als verschollen; so wurde Karl
1912 von seinen Pflegeeltern adoptiert. Nach dem
Besuch der Primarschule in Schönenberg TG und
der Sekundarschule in Bischofszell TG, absolvierte
Meier bei der Seidenweberei Schönenberg ab
1912 eine kaufmännische Lehre.
Bühnenschauspieler
Gleichzeitig organisierte er für den
Stenografenverein Schönenberg-Kradolf, dessen
Ehrenmitglied er bald wurde, die ersten
Theaterabende. Kaum war die Lehre beendet, erwirkte
Meier 1917 seine Versetzung ins Stammhaus der Firma
in Zürich. Dort nahm er nebenher
Schauspielunterricht. 1920 stand er bei einer
Wanderbühne zum ersten Mal auf jenen Brettern,
die die Welt bedeuten. Auf Lehrjahre am
Stadttheater Solothurn (1920/21) und am
Städtebundtheater Winterthur-Schaffhausen
(1921-24), wo Meier in Operetten und
Rührspielen auftrat, folgten 1924-32
ausgedehnte Wanderjahre in Deutschland, wo er
zunehmend tragendere Rollen spielte, Regie
führte oder das Bühnenbild entwarf:
1924/25 finden wir ihn in Bielefeld, 1925-27 in
Münster/Westfalen. 1928/29 scheint er einem
nicht weiter bekannten Cabaret "Der fliegende
Koffer" angehört zu haben, bevor er 1929/30 am
Stadttheater Glogau (heute Polen) und 1930-32 am
Stadttheater Zwickau engagiert war.
Geistige
Landesverteidigung
1932 kehrte Meier in die Schweiz zurück. Dem
Engagement am Städtebundtheater Biel-Solothurn
folgte ein solches am Stadttheater Schaffhausen
(1933-35). Die Berufung zum dortigen
Theaterdirektor lehnte er 1935 ab, weil er sich
1934 beim nachmals legendären, alle "-ismen"
bekämpfenden "Cabaret Cornichon" verpflichtet
hatte, dem er bis 1947 die Treue halten sollte.
Dort trug er mit seiner soliden schauspielerischen
Leistung zu jenem hohen Niveau bei, für das
das Cabaret schnell einmal bekannt war, ohne selber
doch zu einem Star zu werden. Erst nach dem Krieg,
als die Grössen des Ensembles (Elsie
Attenhofer, Heinrich Gretler, Zarli Carigiet, Voli
Geiler u. a.) der Reihe nach abtraten, wurde Meier
" wie die Neue Zürcher Zeitung schrieb " zu
einer tragenden Säule des Cabarets. In
Erinnerung blieb vor allem sein Auftritt als
Kaftanjude.
Diversifizierung
1948 wechselte Meier für eine Saison zu Werner
Fincks "Cabaret Nebelhorn", um dann aber sogleich
den Schritt zum freien Schauspieler zu wagen. In
der Folge - und bis zur Erkrankung 1970 - wirkte er
als Hörspieler bei Radio Zürich,
übernahm mittlere und kleinere Rollen bei fast
allen Theatern Zürichs (Stadttheater,
Corsotheater, Bernhardtheater, Schauspielhaus,
Zürcher Märchenbühne) oder tingelte
mit Schaggi Streulis Team durch die Schweizer
Lande; auch ergab sich ab und zu Gelegenheit, in
Spielfilmen (z. B. Hinter den sieben Gleisen) oder
Fernsehspielen (z. B. Bomber für Japan)
mitzuwirken.
Regisseur
Meier wirkte von allem Anfang an nicht nur als
Schauspieler, sondern zeichnete immer wieder auch
für das Bühnenbild verantwortlich oder
führte gar Regie; er war, wie es im
Bühnenjargon heisst, "rundum verwendbar".
Verhältnismässig bedeutend war er als
Spielleiter von Laientheatern; sein
diesbezüglicher Einsatz und sein
entsprechendes Talent waren immens. Sein subtiler
Umgang mit Laienschauspielern hat mancher
Dorfschaft zu unvergesslichen Theaterabenden auf
hohem Niveau verholfen; geradezu legendär sind
bis auf den heutigen Tag seine Inszenierungen mit
dem Stenografenverein
Schönenberg-Kradolf.
Homosexualität
Dass Meier, der - nach dem gewichtigen Urteil von
Ettore Cella - sein Handwerk im Grunde besser
beherrschte als mancher Star des "Cabarets
Cornichon", kein "grosser" Schauspieler wurde,
hängt ausser mit der ihm vielleicht etwas
fehlenden natürlichen Ausstrahlung zweifellos
mit seinem bewussten Entscheid zusammen, sich
für die homosexuelle Minderheit der Schweiz
(und darüberhinaus) einzusetzen. Meier war
sich seiner Homosexualität spätestens
während seiner Deutschlandjahre bewusst
geworden, wobei er zunächst aus
religiösen Gründen darunter litt.
Zwischen 1929 und 1931 schrieb er dann für
Adolf Brands "Eigenen" zwei, drei Artikel - mehr
nicht. Deshalb betonte Meier später, ihn als
engen Mitarbeiter oder sogar als Fortsetzer Brands
zu bezeichnen, wie das da und dort gemacht worden
war, sei falsch.
Kampf
gegen Verleumdungen
Tatsächlich begann sein Engagement für
die Rechte der Homosexuellen erst Ende April/Anfang
Mai 1934, als er als Rudolf Rheiner im
"Schweizerischen Freundschafts-Banner" einen
flammenden "Appell an alle!", d. h. alle Lesben und
Schwulen, ergehen liess, den Kampf gegen
Verleumdungen des Zürcher Skandalblatts
"Scheinwerfer" aufzunehmen und zu
unterstützen. Von da an war Meier " immer
unter Pseudonym " praktisch in jeder Ausgabe des
"Freundschafts-Banners" mit eigenen Beiträgen
vertreten, zumal er bald in die Redaktion eintrat
und dort schnell einmal die Hauptverantwortung
übernahm (derweil die Lesbierin Anna Vock, die
den Schweizerischen Freundschafts-Verband
präsidierte, Herausgeberin blieb).
Menschenrecht
Von 1937 bis 1941 hiess das Publikationsorgan des
Schweizerischen Freundschafts-Verbands
"Menschenrecht. Blätter zur Aufklärung
gegen Aechtung und Vorurteil". Nachdem das neue
Schweizerische Strafgesetzbuch, das die
gleichgeschlechtliche Liebe unter Erwachsenen
legalisierte, in der Volksabstimmung 1938 durchkam
und mitten im Krieg, per 1942, in Kraft trat, wurde
der kämpferische Ton des Blatts
hinfällig. In der Folge trieb Meier, der jetzt
fast durchwegs als "Rolf" firmierte, den Wandel,
hin zur homophilen Kulturzeitschrift, entschlossen
voran. 1942 übernahm er die Herausgeberschaft,
auf 1943 benannte er die Zeitschrift - sie erschien
jetzt zweisprachig und richtete sich nur noch an
männliche Homosexuelle - in "Der Kreis/Le
Cercle" um.
Der
Kreis/Le Cercle/The Circle
Den deutschsprachigen Teil redigierte Meier (als
"Rolf") selber, der französischsprachige Teil
wurde von Eugen Laubacher (unter dem Pseudonym
"Charles Welti") betreut. Ab August 1954 gab es in
"Der Kreis/Le Cercle/The Circle" einen von Rudolf
Jung (als "Rudolf Burkhardt") redigierten
englischsprachigen Teil. Die einzelnen Hefte
umfassten anfangs zwanzig, später bis zu
sechzig Seiten, den grauen Umschlag aus Halbkarton
zierten lediglich das Kreis-Signet, die griechische
Ampel mit der sich zum Kreis schliessenden Flamme,
sowie der Name der Zeitschrift. Spätestens ab
Mitte der 1950er-Jahre wurde die Zeitschrift, die
nur noch im Abonnent erhältlich war, um den
ganzen Erdball verschickt; gleichwohl erreichte die
Auflage nie mehr als 2000 Exemplare.
Der Weg
in die Anonymität
Nach "Rolf" ging es für die Homosexuellen nach
der rechtlichen Besserstellung von 1938/42 darum,
nun auch die gesellschaftliche Akzeptanz zu
erringen, eine Aufgabe, die, wie er realistisch
einschätzte, längere Zeit in Anspruch
nehmen würde. Bedingung dafür war seiner
Meinung nach, dass die homosexuelle Minderheit die
von der heterosexuellen Mehrheit gesetzten Grenzen
nicht überschritt, sich "wohl verhielt".
Entschlossen setzte er denn eine Strategie der
Abschottung und inneren Stärkung in die Tat
um. Der Schweizerische Freundschafts-Verband mit
Mitspracherecht der Mitglieder wandelte sich zum
lockeren "Lesezirkel", zur blossen
"Abonnentenvereinigung", an dessen Spitze praktisch
unangefochten "Rolf" stand. Die Inhalte der
Zeitschrift bzw. das dort vermittelte Bild des
idealen Schwulen (der u. a. langjährige
eheähnliche Partnerschaften anstrebte und
Promiskuität verabscheute) wurde unter der
Führung von "Rolf" fast ausschliesslich von
ihm, von "Charles Welti" und von "Rudolf
Burkhardt".
Clubleben
Wer den "Kreis" abonniert hatte, wusste allein
"Rolf". Obgleich es keinen eigentlichen Verein mehr
gab, entfaltete sich in Zürich ein reiches
Clubleben mit eindrücklichen
Kleinkunstdarbietungen, fröhlichen Theater-
und Tanzveranstaltungen sowie ausgelassenen
Maskenbällen, aber auch besinnlichen
Weihnachtsfeiern. Die Clubmitglieder wurden
angehalten, nicht unter ihrem bürgerlichen
Namen, sondern unter einem Pseudonym teilzunehmen.
Wer wer war, wusste, jedenfalls dem Anspruch nach,
allein "Rolf". Die Leihbibliothek mit
homoerotischer Literatur wurde von den
Clubmitgliedern ebenso frequentiert wie das
Buchantiquariat; auf grosses Interesse stiess
überdies der Bilderdienst. Im Lauf der Jahre
edierte Meier vier Bände "Der Mann in der
Photographie" sowie einen Band "Der Mann in der
Zeichnung".
Netzwerk
"Rolf" förderte und unterstütze die
Gründung lokaler Abonnentenvereinigungen des
"Kreis". So entstanden mit seiner Hilfe
entsprechende Clubs in Basel und Bern, später
auch in Deutschland (z. B. die "Kameradschaft die
runde" in Reutlingen), den Niederlanden und
Dänemark. So spann sich in den 1950er- und
1960er-Jahren sukzessive ein zunächst
europaweites, in Ansätzen sogar weltweites
homosexuelles Netzwerk. Zweifellos waren das
"Menschrecht" und "Der Kreis" in den 1930er-,
1940er- und 1950er-Jahren die international
bedeutendsten homosexuellen
Zeitschriften.
"Rolf"
Karl Meier
Meier war zeitlebens eine ausserordentlich
hilfsbereite Natur. Fast keine Grenzen kannte seine
Hilfsbereitschaft, wenn es darum ging,
homosexuellen Kameraden, die in Schwierigkeiten
geraten waren, zu unterstützen. Da er sowohl
zu den Zürcher Polizeistellen als auch zu
verschiedenen in- und ausländischen
Rechtsanwälten, Theologen und Sexualforschern
hervorragende Beziehungen unterhielt, war er in der
Lage, manch einem Kameraden, der mit dem Gesetz
(welches z. B. in Deutschland und ÷sterreich
bis Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre
restriktiv war) in Konflikt geraten war, zu helfen.
Aber auch rein persönlicher Nöte nahm
sich "Rolf" mit einem Engagement an, die
beeindruckt.
Ende
Zwar publizierte der "Kreis" schon ab 1943
Aktzeichnungen und Aktfotografien, doch blieb das
männliche Geschlecht konsequent unsichtbar,
Frontalakte waren verpönt. Deren Publikation
hätte die Zürcher Sittenpolizei, der die
Hefte von der Publikation vorgelegt wurden,
vermutlich auch zum Einschreiten bewegt. Da "Rolf"
an seinen rigiden Herausgeberprinzipien indessen
auch noch festhielt, als in den 1960er-Jahren
allenthalben freizügigere Herrenmagazine
erschienen, liefen ihm die Abonnenten davon. Ende
1967 musste der Kreis eingestellt werden. "Rolf"
sah sich um sein Lebenswerk betrogen, und der sonst
so Unverwüstliche vermochte seine bittere
Enttäuschung nur schlecht zu verbergen. 1970
erlitt Karl Meier bei Proben der Zürcher
Märchenbühne einen Schlaganfall, von dem
er sich nicht mehr erholte. Von seinem
jahrzehntelangen Lebenspartner Alfred Brauchli als
Privatpatient liebevoll gepflegt, verstarb er am
29. März 1974 im Zürcher Krankheim
Käferberg.
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